Titel
Chimära mensura?. Die Human-Animal Studies zwischen Schäferhund-Science-Hoax, kritischer Geschichtswissenschaft und akademischem Trendsurfing


Herausgeber
Heitzer, Enrico; Schultze, Sven
Erschienen
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Settele, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Am 6. Februar 2015 hielt eine junge Frau, die sich als „Christiane Schulte“ und Doktorandin aus Bochum ausgab, auf der Tagung „‚Tiere unserer Heimat‘: Auswirkungen der SED-Ideologie auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse in der DDR“ an der Technischen Universität (TU) Berlin den Vortrag „Der deutsch-deutsche Schäferhund – Ein Beitrag zur Gewaltgeschichte des Jahrhunderts der Extreme“. Der Vortrag erschien Ende 2015 unter gleichem Titel und kaum verändert in der Zeitschrift „Totalitarismus und Demokratie“ (12/2015, S. 319–334) des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) an der TU Dresden. Am 15. Februar 2016 wurden Vortrag und Aufsatz durch „Christiane Schulte & Freund/innen“ selbst als Erfindung enttarnt – im Online-Magazin „Telepolis“, nachdem H-Soz-Kult den Abdruck des Bekennerschreibens wegen der Anonymität der Urheber abgelehnt hatte.1 Ihr Ziel sei es gewesen, mit dem Platzieren „frei erfundener Thesen“ die Human-Animal Studies (HAS) und einen politischen Konformismus der DDR-Forschung als „academic fashion“ zu entlarven, die einer „engagierten Gesellschaftskritik“ den Weg verstellten.2 Es handelt sich um eine ungewöhnliche und raffinierte Überkreuzung zweier politischer Konnotationen: zum einen gegen eine kulturalistische linke Avantgarde, die Tiere als ausgebeutete und entrechtete Lebewesen entdeckt hat; zum anderen gegen eine „konservative“ Deutung von Geschichte und ihren Institutionen, weshalb die Zeitschrift „Totalitarismus und Demokratie“ und ihr offenbar mangelhaftes Review-Verfahren vorgeführt werden sollten.3 Die auf erfundenen Quellen basierende zentrale These von „Schultes“ Ausführungen war eine „bisher unerforschte Kontinuität“ der Schäferhundnutzung in der „Gewaltgeschichte des ‚Jahrhunderts der Extreme‘“, genauer: in NS-Konzentrationslagern und sowjetischen Speziallagern (Wiederabdruck im vorliegenden Band, hier S. 43f.).

Weil die Episode zwar reichlich Medienöffentlichkeit fand, aber keine nachhaltige Auseinandersetzung im Fach ausgelöst habe, luden Enrico Heitzer und Sven Schultze am 28. Oktober 2016 zur Diskussion „Auf den Schäferhund gekommen? Ein Workshop zum ‚Schäferhund-Hoax‘, kritischer Geschichtswissenschaft und akademischem Trendsurfing“ wiederum an die TU Berlin. Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis dieses Workshops. Er ist keine klassische Sammlung empirischer Aufsätze, sondern dokumentiert in seinem ersten Teil den Ablauf des Hoax und versammelt in seinem zweiten Teil neun Kommentare zu verschiedenen Aspekten des Schwindels. Mit diesem Zuschnitt möchte der Band wissenschaftliche Qualitätsstandards, kritische Urteilskraft, das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu ideologisierten Deutungen der Vergangenheit und die innerfachliche Debattenkultur auf den Prüfstand stellen (S. 17).

Enrico Heitzer, einer der beiden Herausgeber und wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Aufgabenbereich „Sowjetisches Speziallager“ bei der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, hatte Ungereimtheiten in der Argumentation „Schultes“ bereits vor ihrem Outing bemerkt.4 „Schulte“ machte aus einem Kauf von Hunden der Sowjetischen Militäradministration bei zwei privaten Züchtern, mit denen auch die NS-Lagerverwaltungen Geschäfte getrieben hatten, eine „Weiternutzung“ der Hunde, bevor sie „faktenfrei über eine ‚Kontinuität zwischen dem Hundeeinsatz in den sowjetischen Speziallagern und der späteren NVA‘“ spekulierte.5 Durch seine inhaltliche Expertise verschafft Heitzers Beitrag über das Spannungsverhältnis zwischen „politische[n] Erkenntnisinteressen und wissenschaftliche[n] Erkenntnispotenziale[n]“ dem Band den größten Mehrwert für Historikerinnen und Historiker. Als zwar erfunden, aber naheliegend bewertet er „die Phantasie der Übernahme der KZ-Bluthunde durch die sowjetischen Betreiber der Speziallager an Orten ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrationslager“ vor dem Hintergrund des „älteren bundesrepublikanischen Antitotalitarismusdiskurses“, wonach die DDR als mindestens genauso totalitär wie der NS-Staat galt (S. 194). Diese Form der Totalitarismustheorie sei eine Gefahr für die historische Erkenntnis, weil ihre ideologische Stoßrichtung wissenschaftliche Faktoren ab- und außerwissenschaftliche Faktoren aufwerte. Indem der Hoax demonstriert habe, dass „auch andere Kriterien als allein wissenschaftliche für die Aufnahme in die Zeitschrift relevant zu sein scheinen“ (S. 203), habe der Fall das HAIT in Dresden als „Manifestation des Totalitarismus-Revivals“ (S. 197) erscheinen lassen.

Die anderen Beiträge bleiben hinter Heitzers ernstgemeinter Auseinandersetzung mit den Finessen des Hoax zurück. Stellenweise irritieren sie mit unverblümter Häme und selbstgerechter Genugtuung, wonach allein die Tatsache, dass niemand den Schwindel erkannt habe, die beteiligten Historikerinnen und Historiker ihrer postmodernen Verblendung überführe. So fragt sich Sven Schultze, „ob Haraways Computer […] auch nur funktioniert, weil sie dran glaubt und er sich in der richtigen Machtkonstellation befindet“ (S. 105), während Heiko Werning einwirft, ob beim Begriff „Elfenbeinturm“ „schon mal jemand die Frage nach der Elefantenperspektive auf den Begriff gestellt“ habe (S. 118).

Antonia Schmid und Peter Ullrich (in einem gemeinsamen Beitrag) sowie Florian Peters nutzen den Hoax, um Dynamiken des Wissenschaftsbetriebs zu problematisieren, die der Wissenschaftlichkeit abträglich seien. Nach Schmid und Ullrich unterliegt das hypermaskuline wissenschaftliche Subjekt als Avantgarde des Neoliberalismus (S. 241) einem enormen Publikationszwang, der es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit ungesicherter beruflicher Stellung unmöglich mache, „in Verweigerung der oberflächlichen Moden“ (S. 229) – worunter die HAS gezählt werden – zu publizieren, und das, obwohl die in selbstausbeuterischer Manier produzierten Texte anschließend erstens kaum zur Kenntnis genommen würden und zweitens entgegen ihrem Versprechen keineswegs den dauerhaften Verbleib in der Wissenschaft garantierten. Auch Peters deutet den Hoax als Symptom eines aktuellen Wissenschaftsbetriebs, in dem weniger substantielle neue Erkenntnisse als vielmehr Aufmerksamkeitseffekte beruflichen Erfolg bestimmten. Das mag eine nicht unzutreffende Gegenwartsdiagnose sein, doch im vorliegenden Fall erscheint umso bemerkenswerter, dass die Hoaxer Zeit und Mühe nicht scheuten, den Schäferhund-Aufsatz zu produzieren, obwohl sie durch ihre Entscheidung, nicht mit Klarnamen zu agieren, keinen Reputationsgewinn zu erwarten hatten.

Die Autoren des Bandes greifen aus dem vielstimmigen Getümmel unter dem Schirm der HAS Positionen von Tierrechtsaktivisten und -aktivistinnen heraus, um deren Wissenschaftlichkeit zu problematisieren. Mit der ausgemachten Reibung zwischen politischer Mission und historischer Analyse berühren sie einen wunden Punkt. Zu fragen ist, inwiefern sich politisch-moralische Vorannahmen wie diejenige, dass die Nutzung von Tieren Unrecht sei, mit dem historiografischen Ziel vertragen, vergangenes Geschehen unvoreingenommen zu erklären. Begünstigen sie ein Stehenbleiben bei Empörung über früheren Umgang mit Tieren, wie es der Hoax-Text nahelegt, der Hunde als Opfer der Berliner Mauer darstellt und betroffen auf Hündinnen hinweist, die auch im Zustand ihrer Trächtigkeit nicht von der Laufleine der DDR-Grenzsicherung genommen wurden und deren Welpen anschließend getötet wurden (S. 39 und S. 47)? Damit nicht Emotion das Argument ersetzt, wäre die Rolle von Tieren zwischen „Agency“ und geschichtsmächtigem Faktor jeweils nach Tierart, historischem Schauplatz und Fragestellung zu bestimmen. Vor dem Hintergrund der Erweiterung der Geschichtswissenschaft um Akteure und Themen in den letzten fünf Jahrzehnten – um Frauen, Arbeiter, Randgruppen, Kolonisierte, aber auch um Umwelt, Klima, den Wald oder die Nähmaschine – ist jedoch bei allem Klärungsbedarf nicht zu erwarten, dass ausgerechnet die Tiere draußen bleiben werden.

Ob die politischen Prinzipien von Teilen der in sich durchaus vielschichtigen HAS mit geschichtswissenschaftlichen Methoden verträglich sind, bleibt also zu klären. Daneben wirft der Hoax weitere epistemische Fragen auf, die Gelegenheit für eine disziplinäre Selbstvergewisserung böten – jedoch hier nicht adressiert werden. Der Band geht über die Ungereimtheit hinweg, dass mit Heitzer einer der historisch profunden Beiträger die „Fälschung“ grundsätzlich anders einordnet als die Mehrheit der Autorinnen und Autoren, die die Argumentation „Schultes“ als „absurd“ (u.a. Heiko Werning, S. 119), „Quatsch“, „Blödsinn“, „Nonsens“ (Thomas Hoebel, S. 177, S. 185) oder „Schäferhund-bullshit[s]“ (Antonia Schmid / Peter Ullrich, S. 233) klassifizieren. Für Heitzer war gerade die partielle Plausibilität der Thesen „Schultes“ entscheidend für das Funktionieren des Hoax, während das Geschichtsverständnis anderer Autoren etwas binär anmutet – als gäbe es die wahre und die falsche Geschichte. Es wäre bedauerlich, hinter den fortgeschrittenen Diskussionsstand um Plausibilisierung und Narrativität in unserem Fach zurückzufallen. Erkenntnistheoretisch vielversprechend wäre Fstattdessen, den Schäferhund-Hoax vor dem weiteren Horizont der Debatte über Fakten und Fiktionen zu diskutieren, zumal nur ein Bruchteil der Belege „Schultes“ im eigentlichen Sinn erfunden war.

Der unkonventionelle Band erfüllt seine Funktion als Debattenbeitrag. Er dokumentiert das Geschehene und liefert Denkanstöße; seine Fragen markieren bestehenden Klärungsbedarf im Fach, speziell auch für die DDR-Forschung. Insgesamt bleiben die Antworten jedoch hinter dem Potential der Fragen zurück. Das gilt sowohl für die epistemische Anlage des Hoax als auch für die größere Frage nach der Vereinbarkeit von Human-Animal Studies und Geschichtswissenschaft. In jedem Fall aber kann der Band künftigen Historikerinnen und Historikern ein wertvolles Zeugnis dafür sein, dass die Frage nach Faktizität und Fiktion, Evidenz und Ideologie in der Geschichtswissenschaft auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hohe Wellen zu schlagen vermochte.

Anmerkungen:
1 Siehe den Tagungsbericht von Anett Laue, in: H-Soz-Kult, 28.03.2015, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5903 (16.08.2018), und den dort hinzugefügten redaktionellen Kommentar. Wer sich hinter „Christiane Schulte“ verbirgt, ist bis heute nicht bekannt. Die Autorin der vorliegenden Rezension hat an der genannten Tagung selbst teilgenommen.
2 Kommissar Rex an der Mauer erschossen?, in: Telepolis, 15.02.2016, https://www.heise.de/tp/features/Kommissar-Rex-an-der-Mauer-erschossen-3378291.html (16.08.2018).
3 Das Inhaltsverzeichnis der betroffenen Ausgabe von „Totalitarismus und Demokratie“ wurde stillschweigend um den Schäferhundtext bereinigt (auch auf der Website des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht). Eine Stellungnahme der Redaktion ist noch verfügbar unter https://bit.ly/2PpxEOq (16.08.2018).
4https://www.enricoheitzer.de/2016/02/18/sch%C3%A4ferhund-gate/ (16.08.2018). Dort sind auch der komplette Aufsatz von „Schulte“ und einige Diskussionsbeiträge verlinkt.
5 Ebd.

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